Unter die Haut

Eine Frau läuft durch den Nebel, die Finger rasen über das Griffbrett, die Frau blickt zum dämmernden Horizont, die Silhouette eines Streichquartetts erscheint, die Frau schaut zurück, die Musik kommt immer näher, die Frau rennt durch den Wald, die Töne marschieren im Stechschritt. – Das Armida Quartett hat als erstes Streichquartett einen Videoclip gedreht, um das Internet als Kommunikator für die klassische Musik zu nutzen. In Innsbruck werden die „Rising Stars“ aus Deutschland im herkömmlichen Kammermusikrahmen spielen – aber auch hier an die Grenzen gehen.
Bei Schostakowitsch haben sich die existentiellen Ängste so ins Fleisch gefressen, dass er keine Nacht mehr schlafen konnte.Johanna Staemmler, Armida Quartett
Es ist kein normales Musikvideo: kein Streichquartett im Konzertsaal, im Halbkreis sitzend und musizierend. Die zwei Musikerinnen (Johanna Staemmler, Violine, Teresa Schwamm, Viola) und zwei Musiker (Martin Funda, Violine, Peter-Philipp Staemmler, Violoncello) des Armida Quartetts sind ständig in Bewegung, kommen in stets neuen, dramatischen Positionen und Bewegungen ins Bild: einer/eine allein, zu zweit oder als Quartett.
Die Szenerie wechselt ständig zwischen dem Streichquartett in düsterem Licht und einer unheimlichen Landschaft in der Dämmerung. Eine junge Frau in Sportkleidung kommt ins Bild, allein in der Landschaft, sie blickt suchend um sich, schwimmt durch einen See, läuft gehetzt durch den Wald und über ein Feld. Die Musik zum Videoclip: der wilde, motorische zweite Satz aus dem 10. Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch. Quartettgeigerin Johanna Staemmler über die Auswahl der Musik und die Produktion des Videoclips gemeinsam mit dem Filmregisseur Peter Breunig (BLEND-39-Produktion):
„Uns schien diese Musik besonders geeignet für den Film, weil sie so wahnsinnig unter die Haut geht. Der Regisseur hat sich mit uns gemeinsam in das Stück hineinversetzt. Wir wollten, dass der Film etwas damit zu tun hat, wie wir diese Musik empfinden: diese existentielle Angst, diese physischen und psychischen Grenzerfahrungen. Das haben wir bisher noch bei keinem anderen Musikstück erlebt, dass man fünf Minuten ununterbrochen in allerlautester Lautstärke die schwierigsten Griffe in einem wahnsinnigen Tempo spielen muss. Nach dem Videodreh waren wir alle für drei Tage nicht zu gebrauchen, völlig kaputt und ausgelaugt.“
Der Videoclip ist eine Reaktion des Armida Quartetts auf die totale Internetpräsenz in der gegenwärtigen Zeit und auf die „Youtube-Generation“. Johanna Staemmler: „Die Menschen sind so viel im Internet unterwegs und schauen sich Videos an. Sie gehen nicht von sich aus in ein klassisches Konzert. Wir wollen mit unserem Musikvideo die Fühler ausstrecken, um vielleicht Publikum für unsere Konzerte zu gewinnen, das sonst nicht kommen würde.“
Gleichzeitig spiegelt der Videoclip mit seiner Verfolgungsjagd – Musik jagt Mensch – die Situation Schostakowitschs wider, der viele Jahre seines Lebens auf der Flucht vor Spitzeln des sowjetischen Geheimdienstes und immer in Angst vor der offiziellen Kunstpolizei und deren Repressionen verbrachte. Auch im Konzert in Innsbruck wird sich das Armida Quartett einem Werk von Schostakowitsch widmen, dem neunten Streichquartett. Johanna Staemmler: „Bei Schostakowitsch haben sich die existentiellen Ängste so ins Fleisch gefressen, dass er keine Nacht mehr schlafen konnte. Das neunte Quartett, seiner dritten Ehefrau Irina Antonowna gewidmet, ist zwar eine Musik der Liebe, dennoch hat auch dieses Werk die für Schostakowitsch so typische beklemmende Art, nicht so brutal wie im zehnten Quartett, aber es schwingt die ganze Zeit mit. Schostakowitsch konnte sich nicht anders ausdrücken. Er hat einmal gesagt, die Streichquartette seien seine persönliche Bekenntnismusik.“
Für Johanna Staemmler wird überhaupt in der Musik der großen Komponisten der Schaffensprozess deutlich: „Sie haben ihre eigenen Grenzen ausgelotet. Beethoven ging in seinen Kompositionen immer wieder einen Schritt weiter, riss noch eine Grenze nieder. Er hat sich so weit vor gewagt. Es gibt Stücke von ihm, wie die Große Fuge, die klingen wie aus dem 21. Jahrhundert. Das geht auch intellektuell so in die Tiefe, dass man beim Musizieren an die Grenzen kommt.“
Wobei die körperlichen und geistigen Erfahrungen ganz eng nebeneinander sind. Johanna Staemmler über die besondere Herausforderung des ersten „Rasumowski-Quartetts“ von Beethoven, das sie auch in Innsbruck spielen werden: „Der Tanzsatz ist in diesem Quartett ungewöhnlich komplex und lang. Und erst danach, als dritter Satz, kommt dieser wunderschöne langsame Satz, das ist für uns auch körperlich eine Umstellung vom Tanz auf dieses Herzstück. Danach das Finale mit dem ,Thème russe’, das wieder technisch unglaublich anspruchsvoll ist und der lebendig und frisch gespielt sein muss. Es hat schon sehr viele Raffinessen, dieses Quartett.“
In der klassischen Musik bedingen Physis und Psyche einander. Johanna Staemmler: „Man kann noch so toll und mit dem größten körperlichen Einsatz spielen – wenn man keine gute Idee hat, wird der Funke nicht überspringen. Es funktioniert nur, wenn man versucht, Körper und Geist in harmonische Balance zu bringen. Das erreicht man nie perfekt, aber man versucht, sich immer mehr anzunähern. Das ist auch eine Art Selbsterfahrungsprozess. Nur bleibt man im Streichquartett gleichzeitig auch immer für die anderen Musiker da und reaktionsbereit, man kann nie in seine eigene Welt versinken. Da bekommen dann alle ein Gespür für die emotionale Ebene – und man kann zu viert etwas erreichen, was man allein nie erreichen würde.“
Das hat auch mit den interpretatorischen Zielen zu tun, die sich das Quartett setzt: „Wir wollen in jedem Werk immer gemeinsam zu dem Punkt kommen, dass wir uns ganz auf den Ausdruck konzentrieren können. Dazu muss man die spieltechnischen Aspekte in den Proben so gut erarbeiten, dass sie in den Konzerten in den Hintergrund rücken und wir uns zur Gänze dem musikalischen Gehalt widmen. Wir möchten ja keine Fertigkeiten, keine Kunststückchen zeigen, sondern lebendig machen, was der Komponist mitteilen will.“
Vor den Quartetten von Schostakowitsch und Beethoven wird das Armida Quartett in Innsbruck das Streichquartett D-Dur op. 33/6 von Joseph Haydn spielen. Haydn hat auch mit dem Namen, den das Quartett trägt, zu tun. Johanna Staemmler: „,Armida’ soll Haydns Lieblingsoper gewesen sein. Wir verneigen uns mit dem Namen der Oper vor ihm, dem Vater des Streichquartetts.“
Zudem ist „Armida“ dramatische Musik, Musiktheater. Und auch so manches Streichquartett ist Drama ohne Bühne und birgt theatralische Szenen. Für Johanna Staemmler hat das bei Haydn und Mozart mit ihrer Nähe zur Epoche der Barockmusik zu tun: „Haydn und Mozart haben sich viel mit der Musik ihrer Vorgänger beschäftigt. Sie wussten alles über die Affektenlehre, über Gesten und über die einzelnen Tonarten-Charakteristika.“
Irgendwie leben diese Affekte und Gesten auch in dem Videoclip des Armida Quartetts mit Schostakowitsch weiter. Auch das ist Musikdrama pur.